„Hexenjagd“ (Arthur Miller)
Quelle: Die Rheinpfalz, 28. Juni 2003
Die Bretter, die die Freizeit fressen
Die Monate vor der Premiere: Wie bei den Altleininger Burgspielen eine Aufführung erarbeitet wird
Von unserer Redakteurin Kerstin Witte-Petit
Kyra Schilling steht zum ersten Mal in ihrem Leben auf der Bühne. Nein, stehen soll sie gar nicht. Die Lehrerin, die derzeit ein zweites Studium absolviert, soll auf diesem nackten, leicht abschüssigen Holzboden liegen, laufen, rutschen und rennen, zusammen mit der erfahreneren Bärbel Aue, die später, in der Gefängnisszene zweier als Hexen verurteilter, heruntergekommener alter Frauen mit ihr zusammen spielen wird. Niemand verlangt an diesem Tag von Kyra Schilling ihren sicher schon fleißig einstudierten Text. Während Meditationsmusik vom Band läuft, soll sie sich in einer Bühnenecke in eine Decke wickeln, soll ganz langsam darunter hervorkommen und ihre Umgebung erkunden.
Regisseurin Susanne Rechner steht stumm dabei, abwartend, beobachtend. Sie lässt beiden Frauen Zeit, das Gefangensein, aber auch das Geborgensein in der Decke zu spüren. Sie beobachtet wortlos, wie die Hände und Nasen endlich neugierig aus der Decke lugen, wie beide Frauen nur kurz die neben ihrem Deckenversteck liegenden Dinge betasten – eine Flasche aus Ton, eine gelbe Plüsch-Ente – und sich bald einander zuwenden, hineingeraten in ein wortloses Spiel des Lauerns, Zurückweichens, der fauchenden Belagerung. Langsam, ganz langsam, nähert Susanne Rechner sich der zu spielenden Gefängnisszene. Lässt Bärbel Aue, die sich so vorsichtig aus ihrer Decke geschält hatte, auch als verwahrloste Gefangene widerwillig aus ihrem Stoffbündel hervorkriechen. Ein wenig mehr Mühe kostet es sie, Kyra Schilling nahezubringen, dass die niedliche gelbe Plüsch-Ente, die sie vorhin bemutternd an sich drückte, später durch einen widerlichen toten Vogel ersetzt werden soll, einen, den sie anbeten wird, anbeten als Luzifer. „Da hab‘ ich ja reichlich einen an der Klatsche, wenn ich einen Vogel anhimmle“, begehrt sie kurz auf.
Es ist erst April. Zwei Monate später wird die Gefangene Martha Bellows alias Kyra Schilling mit Inbrunst in zwanghafter Demutsgeste vor ihrem Vogel knieen und ihn krächzend anflehen: „Hol mich! Hol mich heim!“ Heute aber steigen beide Frauen nach ihrem zweistündigen Bühnen-Warm-up herunter in den Zuschauerraum, die Trainingshosen mit großen grauen Staubflecken übersät. Ihre Füße haben sich in dieser Zeit der schrägen Bühne angepasst wie die Schuhe eines Matrosen dem Deck seines Fischkutters.
Susanne Rechner ist Theaterpädagogin, sie weiß, wie man Menschen an eine Rolle heranführt. Dieses Jahr haben alle Neues zu lernen, auch ihre geübten „Stars“. Denn zum ersten Mal führen die Altleininger Burgspiele keine Komödie, sondern Arthur Millers düstere „Hexenjagd“ auf, ein Spiel um die Mechanismen von Verleumdung und Massenhysterie. Ihren talentierten Schwager Robert Kirchner hat Susanne Rechner mit dieser neuen Herausforderung ködern können, die Hauptrolle zu übernehmen, obwohl er eigentlich einmal pausieren wollte. Denn die Bretter, die die Welt bedeuten, bedeuten für Amateurschauspieler vor allem eines: den fast vollständigen Verlust von Freizeit über mehrere Monate hinweg.
Wenn andere Tennis spielen, sich im Freibad aalen oder Fahrradtouren unternehmen, eilen die „Burgspieler“ im Frühjahr Wochenende für Wochenende, Feiertag für Feiertag und dazu noch häufig in der Woche nach Feierabend auf die Burg Altleiningen in ihre mit viel Eigenarbeit modernisierte Spielstätte. Willy Hiebert verbringt seinen Geburtstag mit harter Probenarbeit, Rudolf Feierabend kommt aus dem gleichen Grund verspätet zur Geburtstagsfeier seines Enkels. Solche Zwänge ergeben auf die Dauer entweder Ehekrach oder einen die ganze Familie umfassenden Theatervirus; wenn alle dabei sind, kann kein Daheimgebliebener sich ärgern. Und so finden sich im Programm der „Hexenjagd“ viele Familiennamen mehrmals. Zwei Familien sind es auch, die die Burgspiele seit über 20 Jahren zusammenhalten: die Familien Rechner und Gößling. Willy Rechner, Lehrer mit Schauspieler-Ausbildung und lange Jahre Leiter der Freilichtbühne Mannheim, hatte zur 1200-Jahr-Feier von Altleiningen ein Theaterstück auf die Beine gestellt, das war der Anfang einer nun über zwei Jahrzehnte währenden Aufführungspraxis. Willy Rechner starb 1983. Seine Tochter Susanne hat den Stab übernommen und führt Regie – häufig zusammen mit dem Vorsitzenden des Vereins Burgspiele Altleiningen e.V., Carsten Gößling, der auch Musik, Licht- und Tontechnik bei den Aufführungen konzipiert. Susanne Rechners Ehemann Martin Steinmetz, spielt eine der Hauptrollen im Stück, zudem ist er Öffentlichkeitsarbeiter der Burgspiele. Gerlinde Rechner, Willy Rechners Witwe, entwirft Jahr für Jahr die Kostüme und steht trotzdem noch auf der Bühne. Warum sie sich mit ihren 65 Jahren noch immer die Probenarbeit und die unzähligen Stunden am Zeichentisch und an der Nähmaschine antut, kann Gerlinde Rechner nicht sagen. „Es ist wie ein Bazillus“, meint sie.
Dessen Ansteckungsgefahr ist offenbar groß. Die Studentin Hedwig Häusler ist über ihren Verlobten Burkhard Hildebrandt neu dazugekommen und weiß schon jetzt, dass sie nächstes Jahr gern wieder mitmachen möchte. Es ist nicht nur die Leidenschaft für die vom ersten Auftritt bis zur letzten Bühnenfarbe selbst vorbereiteten Vorstellungen, die die Truppe zusammenhält, es ist die herzliche Atmosphäre. Keine Probe ohne ausgiebige Umarmungen zur Begrüßung, ohne selbst gebackenen Kuchen und von Gerlinde Rechner fürsorglich dargebrachten Tee. Kein Geburtstag ohne hingebungsvoll geschmetterten Kanon. Dabei treibt Regisseurin Susanne Rechner ihre Schauspieler erbarmungslos zu mehr Leistung an. Sie führt kein Bauerntheater, sie will Qualität. Den Körper in Anspannung gekrümmt wie ein Raubvogel, die Augen keine Sekunde von der Bühne wendend, verfolgt sie die Proben. Schneidend ihre Ordnungsrufe, wenn die Disziplin nachlässt. Als einer die Pause zu einem schnellen Bierchen in der Burgschänke nutzt und deshalb auf sein Stichwort nicht erscheint, kann man ihr donnerndes „Rudolf!“ wohl bis unten ins Tal hören. Und geprobt wird alles: Wer trägt nach einer Szene welches Requisit heraus? In welcher Reihenfolge und in welchem Tempo verbeugt man sich beim Schlussapplaus? „Dass es so lange dauert, liegt daran, dass ihr da wie die Puppen herumstolpert, ihr Lieben“, bekommen die Akteure mitleidslos zu hören, als sie nicht zackig genug ihren Diener vor dem noch imaginären Publikum vollführen. Doch: Wie stolz macht aus diesem strengen Munde ein Lob! Als im Juni das Vor-Premierenfieber ansteigt, liegt schon mehrmonatige harte Arbeit hinter der Truppe, Arbeit längst nicht nur auf der Bühne. Angefangen hatte alles eigentlich schon vor Weihnachten: Das geeignete Stück auswählen, überlegen, wer für welche Rolle passen könnte, und die Aufführungsrechte abklären. Das Stück für die eigenen Zwecke bearbeiten.
In einer gemeinsamen Leseprobe testen, wie lange die Aufführung wohl dauern wird, und dann nochmals Textpassagen streichen. Die Aufführungstermine mit der Verwaltung der Burg Altleiningen absprechen. Werbezettel konzipieren und drucken lassen. Maskenbildner im Workshop schulen, damit die buschigen Augenbrauen und grauen Bärte der Bauern und die verdreckten Gesichtszüge der Gefangenen gut gelingen.
Susanne Rechner hat schon früh in einem Puppenstuben-großen Bühnenmodell Bauklötzchen herumgeschoben und mit Heinrich Schumann besprochen, wie die Holzteile zu zimmern sind, aus denen je nach Szene einmal eine Treppe, einmal Tisch und Stühle und dann wieder ein Schreibtisch bei Gericht entstehen werden. Gerlinde Rechner hat im Februar die Kostüme entworfen, für die düstere Szenerie mühsam Stoffe in den verschiedensten Grau- und Schlamm-Tönen zusammengesucht und dann mit ihren Helferinnen die Nähmaschine rattern lassen. Nach der ersten Kostümprobe geht der Stress von Neuem los: Diesem ist der Bund zu weit, jener der Rock zu lang, und die Knopfreihe in der Jacke des Großgrundbesitzers sitzt nach Meinung der Regisseurin zu hoch. Es ist Mitte Juni. Die letzten Proben, die üblichen Aufregungen. Ein kleiner Schwelbrand in den „Katakomben“, den feuchtkalten Kellerräumen mit Requisite und Maske. Im engen, verwinkelten Gang zum rechten Bühnenaufgang werden die spleißigen Holzträger des Bühnenaufbaus mit Stoff umwickelt – die Frauen reißen sich sonst beim Hindurcheilen ihre schweren, weiten Röcke auf. Jede Gewerkschaft würde hier Zeter und Mordio schreien. Aber eine Gewerkschaft ließe ja auch nicht zu, dass sogar Hauptdarsteller wie Timo Hmielorz und Martin Steinmetz sich die Bühnenarbeiter-Handschuhe anziehen, kaum, dass sie vorne ihre Szene beendet haben. Sie schleppen beim nächsten Szeneumbau im Laufschritt Kisten – zuvor mit der Stoppuhr eingeübt. Eine Gewerkschaft würde aufschreien, wenn Schauspieler, Näherinnen und wer sonst greifbar ist, noch am Vorabend der Premiere im Zuschauerraum den Staubwedel schwingen und die Balustrade wienern.
Und dann ist er da, der Tag der Premiere. Zwei Stunden vor dem Beginn des Schauspiels summen die „Katakomben“ vor Leben. Männer in Unterhosen beim Umziehen, dienstbare Geister um die an den vier Schminktischen sitzenden Schauspieler. Den auf der Bühne so bärenstarken Willy Hiebert sieht man, stumm die Lippen bewegend, mit dem Textbuch auf und ab laufen. Anja Gößling, im richtigen Leben Buchhändlerin und auf der Bühne die herrlich spröde Ehefrau des Helden, ist nicht nur von der Schminke blass.
Draußen im Burghof lustwandeln die Premierenbesucher mit dem Sektglas in der Abendsonne. Drunten in den Katakomben Gedränge, angespannte Mienen. Um 19.55 Uhr Umarmungen, ein letztes „toi, toi, toi“. Dann setzt die Musik ein, die Darstellerinnen der ersten Szene stehen hinter der Vorhangfalte.
Jetzt zählt nur eines: Bestehen auf diesen Brettern, die jetzt wirklich die ganze persönliche Welt bedeuten.
Koste das soviel Freizeit, wie es wolle.